Bereits am 14.11.2022 titelte der britische Finanzbranchendienst ETF Stream etwas reißerisch: “Paris übernimmt die Krone des größten europäischen Aktienmarktes von London“.

Und tatsächlich hatten die großen Pariser Börsen, gemäß einem von Bloomberg erstellten Index und gemessen an der kombinierten Marktkapitalisierung, kurz vorher die London Stock Exchange (LSE) als größten europäischen Aktienmarkt kurzzeitig abgelöst. Laut Bloomberg waren britische Aktien zum Stichtag USD 2,821 Mrd. wert, französische Aktien hingegen USD 2,823 Mrd.

Der Abstand im Börsenwert zwischen den beiden Aktienmärkten hatte sich bereits seit dem Brexit im Jahr 2016 stetig verringert. Dazu hat auch der Wertverfall des Pfund Sterling beigetragen, das deutlich gegenüber dem US-Dollar und dem Euro verlor. Den letzten Impuls gaben dann die schlechten Wachstumsaussichten für das Vereinigte Königreich, die auf den Vermögenswerten lasteten und weiter lasten.

Pariser, Amsterdamer und Frankfurter Börsen profitieren vom Brexit

Während der Brexit die Londoner Börse schwächte, war bereits wenige Jahre danach klar, wer die großen Gewinner sind.

Was London verlor, teilten die großen Börsenzentren der Europäischen Union untereinander auf. Paris und Amsterdam, die Deutsche Börse in Frankfurt, aber auch die Börsen in Mailand, Madrid, Dublin und Warschau schnappen sich nun größere Stücke vom großen Kuchen.

Das neue große europäische Finanzzentrum scheint allerdings eindeutig Paris zu werden.

Paris als neues Finanzzentrum Europas

Lange war die London Stock Exchange der bedeutendste Handelsplatz des europäischen Kontinents. Doch inzwischen hat sich die Situation auf den britischen Inseln, dem einstigen großen Schmelztiegel für Kapital vom Kontinent und Ideen aus Übersee, enorm verändert.

Noch liegt London zwar hinsichtlich Mitarbeiterzahl, Vermögenswerten und Geschäftsvolumen zwar vor Paris, doch seit dem Brexit leidet sein Status zunehmend. Ihre Rolle als Standard-Standort für Unternehmen, die sich über die Aktien- und Anleihemärkte Zugang zu globalen Kapitalpools verschaffen wollen, hat die Stadt praktisch verloren.

Die Banken lieben Paris

Auch die US-Großbanken glauben inzwischen offensichtlich an Paris als das neue europäische Finanzzentrum. Siehst man sich die entsprechenden Zahlen an, so beeindrucken diese. Die Wall Street-Giganten JP Morgan Chase und die Bank of America beschäftigen inzwischen zusammen rund 1.150 Mitarbeiter in Paris, ein Vielfaches dessen, was es vor dem Brexit war. Auch Goldman Sachs hat die Mitarbeiterzahl seines Global-Markets-Teams innerhalb der letzten zwei Jahren mehr als verdoppelt – Tendenz weiter steigend – und die Citigroup baut unweit der Champs-Élysées ein neues Bürogebäude.

Eine neue europäische Bankenrealität scheint sich Bahn zu brechen, die sich aufgrund der gigantischen Verlagerung von Kapital und Personal nicht so leicht revidieren lässt.

Das sieht wohl auch Francois Villeroy de Galhau, Chef der französischen Zentralbank, so. Kürzlich sagte er vor einer Gruppe von New Yorker Bankern: “Im Gegensatz zu anderen Städten, die eine oder zwei Arten von Finanzdienstleistungen angezogen haben, ist Paris die einzige Stadt, die von Verlagerungen in allen Segmenten der Finanzindustrie profitiert hat.” und ergänzte “Noch wichtiger ist, dass diese Verlagerungen keine einmaligen Ereignisse waren: Die Dynamik hat sich nachhaltig von London nach Kontinentaleuropa verlagert. Wir beobachten eine stetige Verlagerung, die keine Anzeichen einer Abschwächung zeigt.“. Klare Worte!

Und nicht nur die traditionellen Banken!

Die US-Investmentbanken haben ihren Anteil am Beratungs- und Emissionsmarktgeschäft seit dem Brexit beständig ausgebaut und dominieren in Westeuropa inzwischen die Spitzenplätze bei Börsengängen. Der Börsengang von Porsche und der Verkauf von DB Schenker sind hier nur zwei Beispiele für große Transaktionen, bei denen US-Institute eine führende Rolle spielten.

Im letzten Jahr verdoppelte der Hedgefonds Millennium Management die Zahl seiner Mitarbeiter in Paris. Gleiches gilt für das französische Investmentbanking der Bank of America, und die Händler von Staatsanleihen in den Büros von Goldman Sachs genießen eine Aussicht auf den Arc de Triomphe.

Durch den Zustrom gutsituierter Geschäftsleute geht die Nachfrage nach zweisprachigen Privatschulen und Luxuswohnungen mit Blick auf die Pariser Skyline durch die Decke. Und die Banken unterstützen ihre umzugswilligen Mitarbeiter mit Umzugsberater, Sprachunterricht und Arbeitsbedingungen, die einer Weltmetropole wie Paris angemessen sind.

Andere europäische Nutznießer des Brexit

Zum Teil ist die besondere Anziehungskraft von Paris wohl darauf zurückzuführen, dass es als Mega-Metropole von Weltrang London in Europa am ehesten ähnelt. Man spielt als Hauptstadt und nationales Zentrum in wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Hinsicht dann doch in einer anderen Liga als Frankfurt, Mailand oder auch Amsterdam. Das bedeutet aber nicht, dass diese durchaus bedeutenden Städte durch den Brexit keinen Zustrom von wohlhabenden Finanzexperten erfahren würden.

So haben italienische Banken wie Unicredit und Intesa Sanpaolo ihre Mitarbeiterzahl in London reduziert und nach Mailand verlagert. Auch US-amerikanische Banken haben dort ihre Präsenz ausgebaut. Goldman Sachs z.B. hat seinen Euro-Swaps-Handel teilweise in die lombardische Metropole verlegt.

Auch an der deutschen Börse in Frankfurt profitiert man davon, dass die größten internationalen Banken die in ihren Eurozonen-Niederlassungen gebuchten Vermögenswerte laut EZB seit 2018 um mehr als das Sechsfache auf fast EUR 1,7 Billionen erhöht haben. Die meisten wurden nach Frankfurt verlagert, das in der EU zum Zentrum des Risikomanagements geworden ist.

Ein weiterer Nutznießer ist beispielsweise auch Amsterdam, wo seit Mitte 2021 in jedem Monat mehr Aktien gehandelt werden als in London.

“The trend is your friend”

London ist nach wie vor der Platzhirsch im europäischen Finanzwesen. Und es ist nicht leicht, Mitarbeiter zu versetzen, deren Leben fest mit dem Vereinigten Königreich verbunden sind.

Doch die Position Londons hat sich verschlechtert. Selbst einheimische britische Unternehmen stellen in der Post-Brexit-Zeit ihre Gewinne über ihren Patriotismus.

Die britische Regierung hat eine Untersuchung in Auftrag gegeben, wie das Land als Standort für Börsengänge wieder attraktiver werden kann. Ob der Brexit solche Ambitionen künftig verhindert, bleibt abzuwarten. Die Zeit und die globalen Entwicklungen spielen jedenfalls für die EU im Allgemeinen und Paris im Besonderen.

Und so ist es keine Überraschung, dass ein Professor der LSE (London School of Economics) seine Bedenken in drei Sätzen so zusammenfasst: “Es besteht das Risiko eines langsamen Einbruchs der Arbeitsplätze, Aktivitäten und Steuerzahlungen in der City. Die City ist immer noch enorm wichtig für London und das Vereinigte Königreich, was den Wohlstand, die Steuereinnahmen und die Menschen angeht. Ob etwas anderes sie ersetzen kann oder wichtiger werden wird, werden wir herausfinden.“.